24. Juli 2015

39 / Achtunddreißig – rostige Fahrräder – Aschenbecher – Fortpflanzung – endlaser - fressen und ficken


Meine erste Reaktion war mich auf der Stelle umzudrehen und wieder ins Klo zu gehen.
Bleib hier. Ich will doch nur reden.“ sagte Ciev.
Ich ging einen Schritt auf sie zu, doch sie zuckte nicht einmal zusammen.
Warum zur Hölle sollte ich mit dir reden wollen?“
Du willst nicht aber du hast keine Wahl.“ antwortete sie.
Keine Wahl? Blödsinn.“
Ich setzte mich in Bewegung Richtung Innen Raum, doch sie trat mir in den Weg.
Geh mir aus dem Weg.“
Sonst was?“ fragte sie und ihre oh so grünen Augen funkelten mich an.
Du wirst schon sehen was sonst...“
Sie seufzte und sah zu Boden, ging aber nicht beiseite.
Ich packte sie an der Schulter und versuchte sie wegzuschieben, aber sie rückte nicht weg.
Okay, folgendes. Ich will mit dir reden und wir werden reden.“

Nein werden wir nicht.“ Ich drückte fester, doch sie rührte sich nicht.
Hör mir zu.“
Ich drückte fester.
Hör mir verdammt nochmal zu!“ Sie nahm meine Hand und drückte sie beiseite.
Das ist der achtunddreißigste Versuch mit dir zu reden, okay? Ich verliere allfällig die Geduld, aber ich habe alle Zeit der Welt um dich zum reden zu bringen, also lass den Quatsch und lass uns reden verflucht.“
Ich wich zurück.
Was soll das bedeuten achtunddreißigster Versuch?
Echt jetzt? Muss ich es dir erklären?“
Ich sah sie groß an.
Okay, ich habe eine Zeitmaschine. Jedes mal wenn du mir ausgewichen bist bin ich ein paar Minuten zurückgereist und habe einen neuen Versuch gestartet. Egal was du machst um mir zu entkommen – ich kann es korrigieren und glaub mir – wir werden reden, ob du willst oder nicht.“
Ich konnte in ihrem Gesicht sehen, dass sie es ernst meinte und gab auf.
Okay, du hast zehn Minuten. Wo?“
Lass uns rausgehen.“
Ich hatte immer noch keine Lust, mein Schädel dröhnte und mein Gleichgewicht war immer noch eingeschränkt, aber wie sie schon gesagt hatte – welch Wahl hatte ich?
Gut, lass uns rausgehen.“ Ich dreht mich Richtung Ausgang und musste mich an der Wand abstützen.
Mir war nach noch einem Bier. Oder besser einem Kaffee.
Kaffee?“ fragte Ciev und hielt mir einen Becher hin. Ich nahm ihn wortlos, konnte mir ja denken warum sie so plötzlich einen Kaffee hatte und ging nach draußen.
Sie folgte mir.

Als ich unter dem wütenden Geschimpfte der Spatzen auf den frühen Morgen meinen Hausflur betrat, entschied ich spontan mal nach Horst zu sehen. Mir war nach Gesellschaft, aber nach leiser Gesellschaft.
Horst war schon wach und schaute mich fragend an, als ich über den Hof schlurfte und mich wortlos neben ihn setzte. Man kann es an den Ohren sehen, wenn er verwirrt ist. Dann zucken und drehen sich seine Ohren wie verrückt.
Wir saßen eine Weile einfach nebeneinander, ich genoss die frische Luft, das Spatzenkonzert und die leichte Wärme die Horst ausstrahlte. Dazu noch das leise Quietschen der Tram an der Ecke Prenzlauer und Danziger Straße, Autohupen und irgendwo aus der Ferne die Sirene einen Rettungswagens oder Polizeiautos. Berlin wachte gerade auf und diese Kulisse gab mir die Möglichkeit wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Es war echt, Horst war echt, mein Innenhof voller rostiger Fahrräder war echt. Das brauchte ich jetzt. Irgendwie war der Abend aus den Fugen geraten und ich noch dabei die Einzelteile aufzusammeln.
Aus dem Augenwinkel konnte ich Horst sehen und wie sich seine Ohren drehten und zuckten.

"Horst?" fragte ich schließlich.
Er brummte nur.
"Ich hab heute Ciev wiedergetroffen."
Horst sagte eine Weile nichts, was ich falsch interpretierte.
"Wen?"
Ich drehte mich zu ihm um.
"Ciev."
Horst zeigte Zähne.
"Sorry, hab keine Ahnung."
Ich seufzte.
"Das Mädchen mit den grünen Augen."
Horst sah mich immer noch groß an.
"Die Invasion? Der Anschlag? Diese dämliche 'Versteckte Kamera'-Show? Hast du das alles vergessen?"
"Nee natürlich nicht aber Ciev..."
Horst schnalzte mit den Lippen.
"Die mit dem Hula Hoop Reifen."
"Ach klar, Ciev! Cool!"
Ich rieb mir die Stirn.
"Nein Horst, nicht cool. Man, die hat mich doch komplett verarscht gehabt, hast du das nicht geschnallt?"
"Was? Ach ja, stimmt. Uh, unschön. Wo denn?"
"Was, wo denn?"
"Wo hast du sie wiedergetroffen?"
"Ach so. Im Duncker."
"Und?"
"Und was?"
Horst schnaubte.
"Muss man dir jedes Wort einzeln aus den Nase ziehen? Wie war es? Hab ihr geredet? Hat sie sich entschuldigt?"
Ich nickte, schüttelte den Kopf, nickte nochmal.
"Eigentlich schon. Glaube ich jedenfalls. Ich weiß nicht."

Wir hatten beide draußen Platz genommen. Der Pavillon war fast leer, so dass wir ziemlich ungestört waren. Der Kaffee war heiß und süß genauso, wie ich ihn mochte. Was mich aus einem unbestimmten Grund nur noch wütender auf sie machte.
"Na dann mal los." sagte ich recht unfreundlich.
Sie blickte zu Boden, zupfte an ihrem Shirt herum und schien nach Worten zu suchen.
In der aufkommenden Dämmerung konnte ich sie gut sehen und hatte das erste Mal die Gelegenheit sie wirklich in Ruhe anschauen zu können. Ihr Gesicht ist fast rund und ihre Augen stehen ein klein wenig zu nahe beieinander. Das gibt ihren einen Ausdruck als ob sie andauernd über irgendwas nachgrübeln würde. Die Haare hatte sie hinter die Ohren gestrichen. Einer der ersten Sonnenstrahlen des Tages verfing sich in ihren Haaren und lies sie leuchten.
Trotz allem was passiert war, war sie noch immer das schönste Mädchen das ich in meinem Leben gesehen habe. Und das machte das Ganze umso schwerer.
Sie atmete tief ein und richtete sich auf.
"Es tut mir sehr leid was passiert ist."
Sie schloss ihren Mund wieder und sah mich an. Sah mich einfach nur mit diesen wunderschönen grünen Augen an, in die ich nur zu gern versunken wäre. Aber das konnte ich nicht.
"Das ist es? Das ist alles? Es tut dir leid?"
Ich starrte sie an, versuchte sie mit Blicken dazu zu bringen noch mehr zu sagen. Ich wollte, dass sie sich unwohl fühlt, wollte dass ihr dieses Gespräch genauso unangenehm war wie mir. Aber sie blieb ruhig, erwiderte meinen Blick und rührte keinen Muskel.
Schließlich war ich es, der die Geduld verlor.
"Das ist doch gequirlte Scheiße!" rief ich und hieb mit der flachen Hand auf den Tisch zwischen uns. Der stand nicht wirklich stabil auf drei Beinen und machte einen Satz, der den Aschenbecher darauf in Bewegung setzte. Ich streckte die Hand aus, um ihn mir zu schnappen und in dem Moment beugte sich Ciev vor und griff meinen Arm und zog mich halb zu sich heran.
Klappernd fiel der Aschenbecher zu Boden und ehe ich wusste was los war küsste sie mich.

Als ihre Lippen meine berührten löste sich alles auf. Ich war überall, ich war hier. Mein Körper zerfloss in einem warmen Fluss aus Licht in alle Richtungen gleichzeitig. Lächelnde Dunkelheit hieß mich willkommen. Meine nichtexistenten Füße spürten liebkosendes Grass, das unter ihnen hindurchglitt. Ich war alles, ich war nur bei ihr.

"Sie hat dich geküsst?" fragte Horst.
Ich nickte langsam, konnte es selber noch nicht richtig fassen.
"Und du hast das einfach so hingenommen?"
"Ja, nein, naja. Es ist kompliziert."
"Was ist denn daran kompliziert? Gerade eben hasst du sie noch und plötzlich steckt ihre Zunge in deinem Hals."
Ich warf Horst einen bösen Blick zu.
"So einfach ist das nicht gewesen!" zischte ich ihn an.
"Okay, okay." Ich konnte förmlich sehen wie er metaphorisch die Hände hob.
"Ich halte mich für einen rationalen Menschen, Horst. Ich weiß, dass Liebe nur einen chemische Reaktion ist, ausgelöst durch Pheromone und Botenstoffen, die einzig und allein den Zweck haben uns zur Fortpflanzung zu animieren. Glückshormon, die eine Partnerschaft schaffen sollen, damit eventuelle Nachkommen geschützt sind. Das weiß ich hier."
Ich pochte mir gegen den Kopf.
"Aber das war etwas anderes. Das war etwas, dass sich nicht in meinem Kopf abspielte."
Wir hingen beide schweigend unseren Gedanken nach. Ich konnte noch immer ihre Lippen schmecken.
"Also geht's um Fortpflanzung, richtig?"
"Nein, Horst, es geht nicht um Fortpflanzung verdammt!"
Wieder schwiegen wir eine Weile.
"Also hast du nicht...?"
Ich sah ihn fragend an, wohl wissend was er wollte.
"Du weißt schon..."
Wir sahen uns an.
Horst machte ein schnalzendes Geräusch.
"Ich weiß, was du meinst Horst. Nein haben wir nicht. Gottverdammt!"
Horst bleckte seine Zähne.

Ein paar Minuten später hatte ich mich wieder etwas beruhigt.
"Horst?"
"Japp."
"Warum hat sie das wohl gemacht?"
"Der Kuss? Keine Ahnung."
"Nein, diese Show, diese dämliche Sendung.
"Ehrlich?"
Ich sah ihn an.
"Na klar ehrlich."
Horst seufzte.
"Weil ihr Menschen euch gern verarschen lasst."
"Was?"
"Ja, ihr lasst euch gern verarschen. Oder besser gesagt, ihr lasst euch leicht verarschen."
"Was soll denn das heißen?"
"Okay. Ihr Menschen, und damit meine ich jeden einzelnen von euch, glaubt dass er zu etwas großem geschaffen wurde. Jeder. Ihr alle hofft, dass eines Tages jemand auf euch zukommt und sagt: 'Dich, genau dich haben wir gesucht. Du bist der Auserwählte!'. Und deswegen kann man euch leicht verarschen. Man muss das nur ausnutzen."
"Das ist doch Blödsinn!"
"Sicher? Dann erklär' mir mal bitte die ganzen Castingsendungen, in der die untalentiertesten Menschen die man sich vorstellen kann sich für 'endlaser' halten."
"End-was?"
"Endlaser. Sollte wohl geil bedeuten."
"Na gut, da sind also ein paar Leute, die sich von ihrer Eigenwahrnehmung befreit haben und in solchen Sendungen durchdrehen, aber das beweist gar nichts."
"Tut es nicht? Ihr Menschen wollt immer mehr sein als einfach nur Mensch. Nur eine Arbeit, nur eine Frau, nur ein Bier - es ist nie genug. Ihr wollt schneller, größer, weiter. Wir sehen das anders. Ich meine sieh mich an: Ich bin ein sprechendes Pferd. Aber trotzdem eben nur ein Pferd. Und das ist okay so. Ich will gar nicht mehr. Ich will nicht zum Mond fliegen oder zur Gottheit eines einsamen Inselstammes erklärt werden."
"Gottheit?"
"Als Beispiel. Aber wir weichen vom Thema ab. Castingshow. Jeder von denen hält sich für etwas besonderes, für den einen auf den alle gewartet haben - für den Auserwählten. Und das mit der fehlenden Eigenwahrnehmung ist bei euch Menschen auch nicht so selten."
"Wowowo, Horst jetzt mal langsam! Was soll dass denn jetzt schon wieder heißen?"
"Erinnerst du dich noch an unser Gespräch über die dominante Spezies?"
"Klar."
"Ich hab nochmal darüber nachgedacht. Wer hat eigentlich entschieden, dass ihr die dominante Spezies auf dem Planeten sein sollt?"
"Sind."
"Hmmm?"
"Die dominante Spezies sind."
"Jaja, was auch immer. Also wer hat das entschieden? Gab es einen Wettbewerb?"
"Nein natürlich nicht. Das ist wissenschaftlich belegt, Himmel Herrgott nochmal!"
"Von welchen Wissenschaftlern? Menschen?"
"Na klar Menschen."
"Ha! Voreingenommen!"
"Jetzt mach mal n Punkt Horst! Das ist doch Schwachsinn!"
"Weißt du was ich glaube? Ihr Menschen haltet euch für die dominante Spezies, weil ihr über allem anderen zu stehen glaubt. Aber alles was ihr mit den angeblich unterlegenen Spezies tut ist sie fressen oder ficken."
"Horst!"
"Ist doch wahr! Ihr Menschen fresst Kühe, Schweine, Hunde, Katzen, Insekten, Schlangen, Krokodil und sogar Pferde. Aber nur wenn ihr nicht gerade versucht eines zu ficken."
"Woher willst du denn das wissen?"
"Wir reden miteinander. Und glaub mir, da bekommst du Sachen zu hören..."
"Okay, mir reicht's. Ich geh ins Bett. Tierporno zum frühen Morgen vertrage ich nicht."
Ich stand auf und ging zur Haustür.
Und was ist jetzt mit Ciev?“ rief mir Horst hinterher.
Was soll mit ihr sein?“
Na hast du jetzt eine Freundin, oder was? Passiert da noch mehr? Seht ihr euch nochmal.“
Ich hab keine Ahnung Horst.“
Ich überlegte kurz.
Schätze schon.“
Horst grinste wieder sein unanständig gelbes Grinsen.
Ich drehte mich seufzend um.
"Nacht Horst."

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